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Verfassungswidrigkeit der Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen ab 2014

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit heute veröffentlichtem Beschluss vom 8. Juli 2021 (Az. 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17) entschieden, dass die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen mit einem Zinssatz von 0,5 % für jeden Monat ab dem Jahr 2014 verfassungswidrig ist.

Gegenstand der Verfassungsbeschwerden war mittelbar § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 S. 1 AO. Diese Regelungen betreffen die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen bezüglich der Einkommen-, Körperschaft-, Vermögen-, Umsatz- und Gewerbesteuer. Demnach sind solche Steuernachforderungen und Steuererstattungen grundsätzlich nach Ablauf einer Karenzzeit von 15 Monaten bis zur Steuerfestsetzung zu verzinsen (sogenannte Vollverzinsung). Der Zinssatz beträgt 0,5 % monatlich – mithin 6 % jährlich. Die Karenzzeit beginnt mit dem Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist.

Daraus ergibt sich eine unterschiedliche Behandlung der Steuerpflichtigen je nach dem Zeitpunkt der Steuerfestsetzung: Während Steuerpflichtige, deren Steuer innerhalb der Karenzzeit festgesetzt wird, keine Zinsen zahlen müssen, sind Steuerpflichtige, deren Steuer nach Ablauf der Karenzzeit festgesetzt wird, zinszahlungspflichtig.

Nach dem Beschluss des BVerfG liegt aufgrund des gesetzlich angeordneten Zinssatzes von 0,5 % monatlich, soweit Verzinsungszeiträume seit dem Jahr 2014 betroffen sind, ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG vor.

ZUSAMMENFASSUNG

  • Die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen ist ab 2014 verfassungswidrig, soweit ein Zinssatz von 0,5 % für jeden Monat zugrunde gelegt wird.
  • Spätestens bis zum 31. Juli 2022 muss eine Neuregelung durch den Gesetzgeber erfolgen. Für Verzinsungszeiträume vom 1. Januar 2014 bis zum 31. Dezember 2018 gelten die Regelungen dabei fort und es besteht keine Verpflichtung zur rückwirkenden verfassungsmäßigen Regelung durch den Gesetzgeber.
  • Für Verzinsungszeiträume ab 2019 ist § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 S. 1 AO unanwendbar, Gerichte und Verwaltung dürfen die Regelung im Umfang der Verfassungswidrigkeit nicht mehr anwenden und haben laufende Verfahren auszusetzen.

A. Verfassungsrechtlich rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung

Die Regelung der Karenzzeit führt dazu, dass von der Verzinsung nur diejenigen Steuerpflichtigen betroffen sind, deren erstmalige Steuerfestsetzung oder Änderung der Steuerfestsetzung zu ihren Ungunsten nach dem Ablauf der Karenzzeit liegt. Diese Ungleichbehandlung zu nicht zinszahlungspflichtigen Steuerpflichtigen erachtet das BVerfG als verfassungsrechtlich rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung.

Die Verzinsung als steuerliche Nebenleistung erfordert dabei einen besonderen Rechtfertigungsgrund, der über den Zweck der Einnahmeerzielung hinausgeht und eine deutliche Unterscheidung zur Steuer erlaubt.

Dabei betont das BVerfG, dass der Zeitpunkt der Steuerfestsetzung und die damit mögliche Überschreitung der Karenzzeit weitestgehend nicht in der Hand des Steuerpflichtigen liegt. Der Steuerpflichtige kann lediglich auf eine frühestmögliche Steuerfestsetzung hinwirken. Final wird der Steuerfestsetzungszeitpunkt jedoch durch die Finanzverwaltung oder – hinsichtlich der Gewerbesteuer – durch die hebeberechtigte Gemeinde bestimmt. Das BVerfG führt hierfür insbesondere den Zeitpunkt der Außenprüfung und den Zeitpunkt des anschließenden Erlasses eines Änderungsbescheides an. Aufgrund der Verfahrensweise sind diese regelmäßig erst nach Ablauf der Karenzzeit von 15 Monaten abgeschlossen.

B. Typisierung durch Verzinsung grundsätzlich verfassungsrechtlich möglich

Das BVerfG gesteht dem Gesetzgeber dennoch grundsätzlich zu, aus Gründen der Praktikabilität und der Verwaltungsvereinfachung hinsichtlich des Zinsgegenstands und des Zinssatzes eine Typisierung vorzunehmen.

Insoweit dient § 233a AO einem legitimen Zweck und ist geeignet, diesen Gesetzeszweck zu fördern. Die Vollverzinsung und ein starrer Zinssatz sind nicht per se verfassungsrechtlich zu beanstanden. Die Geeignetheit ergibt sich daraus, dass die Möglichkeit der Zweckerreichung besteht und solche Regelungen sich insofern grundsätzlich im Rahmen des diesbezüglichen gesetzgeberischen Spielraums bewegen. Hinsichtlich der Erforderlichkeit unterscheidet das BVerfG jedoch zwischen der Zeit bis 2013 und der Zeit ab 2014.

C. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung bis einschließlich 2013 – Verfassungswidrigkeit ab 2014

Für den Zeitraum bis 2013 hat das BVerfG die Erforderlichkeit einer an einen Zinssatz von monatlich 0,5 % anknüpfenden Vollverzinsung noch bejaht. Das BVerfG verneint jedoch die Erforderlichkeit, soweit die Vollverzinsung mit einem Zinssatz von 0,5 % für jeden Monat ab dem Jahr 2014 erfolgt. Diese Verzinsung geht über eine zulässige Typisierung hinaus. Denn der monatliche Zinssatz i.H.v. 0,5 % erweist sich spätestens ab 2014 angesichts der veränderten tatsächlichen Umstände als evident realitätsfern. Dies begründet das BVerfG insbesondere mit dem sich seit Beginn der Finanzkrise 2008 entwickelnden strukturellen Niedrigzinsniveau. Dadurch hat die Vollverzinsung spätestens ab 2014 nicht mehr dem fiktiven Zinsvorteil einer späteren Steuerfestsetzung entsprochen und überschießend gewirkt. Die mit der Vollverzinsung erfolgende Typisierung bewegte sich mithin seitdem nicht mehr im verfassungsrechtlichen Rahmen.

außerdem erschienen in: Unternehmeredition online, 19. August 2021
Autoren: Uwe Bärenz, Dr. Michael Best, Dr. Peter Bujotzek, Gerald Herrmann, Dr. Hardy Fischer, Dr. Nico Fischer, Dr. Maximilian Haag, Dr. Benedikt Hohaus, Dr. Barbara Koch-Schulte, Dr. Martin Liebernickel, Peter F. Peschke, Dr. Christoph Philipp, Dr. Andreas Richter, Dr. Andreas Rodin, Dr. Stephan Viskorf, Dr. Marco Ottenwälder
Expertise
  • Steuerrecht
    • Konzernsteuerrecht / Unternehmenssteuerrecht